Heavy Metal: „Ein Schrei nach Leben“ (Interview mit Jürgen Fliege) v. 12.10.11

Ja, DEN Jürgen Fliege, den derzeit allüberall kontrovers diskutierten Glaubensmann, konnte OsnaMetal.de, als erstes Metal-Magazin überhaupt, mit metallischer Religions-Thematik konfrontieren. Man mag von ihm und von der Interview-Idee halten was man will, es waren ihm doch einige interessante Aussagen zu entlocken. Zumindest für Leute, die spirituellen Inhalten nicht grundweg despektierlich gegenüberstehen, oder eben doch und gerade deshalb …

Heavy Metal: „Ein Schrei nach Leben“ (Interview mit Jürgen Fliege) v. 12.10.11
Heavy Metal: „Ein Schrei nach Leben“ (Interview mit Jürgen Fliege) v. 12.10.11

OM: Hallo Herr Fliege, erstmal vorweg vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen für ein Gespräch mit OsnaMetal.de. Wie geht es Ihnen nach der zuletzt für Sie medial recht turbulenten Zeit?

Jürgen Fliege: Nur die Harten kommen in den Garten. Also das ist schon schwierig, wenn man missbraucht wird als Gespött der Leute. Aber was anderes ist einem ja auch nicht versprochen worden. Also da muss man schon durchhalten.

OM: Das soll auch hier nicht weiter unser Thema sein. Ich gehe davon aus, dass es Ihr erstes Interview mit einem Metal-Magazin ist?

Jürgen Fliege: So ist es, so ist es.

OM: Welche Art musikalischer Werke beschallt denn Ihre heimischen Kemenaten?

Jürgen Fliege: Ich kann glaube ich die CDs, die ich überhaupt in meinem Leben gekauft habe, an zwei Händen abzählen. Und was es da an Chorälen gibt habe ich mir auch noch nie gekauft, aber sicherlich kenne ich mein Gesangbuch auswendig, und natürlich habe ich meinen Johann Sebastian Bach, und ich habe meinen Eric Clapton.


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OM: Also gab es in Ihrer Biographie schon Berührungspunkte mit Rockmusik.

Jürgen Fliege: Wenn man 68er ist, kommst du ohne Rolling Stones und ohne Beatles überhaupt nicht ins Leben.

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OM: Also, es existiert ja keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Religion…

Jürgen Fliege: Es gibt zwei. Also zwei, wenn man so will, wissenschaftliche Religionen. Einerseits hat es was mit den Wurzeln zu tun. Einmal religio: Rückerinnerung, Rückbesinnung, und das andere hat was mit Lesen zu tun, um eine Sache herumgehen, intensiv lesen, auflesen, sich intensiv kümmern um. Das sind die beiden Wurzeln, das ist Religion.

OM: Sie scheinen ja recht tolerant gegenüber von gängigen Glaubensrichtungen abgespalteten Gemeinschaften zu sein.

Jürgen Fliege: Ich bin in meiner eigenen sicher genug und deswegen kann ich tolerant sein. Wenn man selber nicht sicher ist, dann kämpft man. Wenn man sicher ist, muss man nicht mehr kämpfen.

OM: Es gibt Menschen, für die ist Heavy Metal Religion, oder Schalke 04.

Jürgen Fliege: Das ist erstmal völlig vernünftig. Vernünftig ist was anderes, selbstverständlich. Aber Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe ist wichtig. Weil ein Individuum ist niemand durch Bewusstsein ein Original zu sein, verhält sich nur umgekehrt zur Erfahrung.

OM: Also können Sie das akzeptieren.

Jürgen Fliege: Ja, das finde ich völlig in Ordnung. Schalke 04, finde ich schön, wenn die auf dem Friedhof singen: „Steh‘ auf, wenn du ein Schalker bist!“ Dummerweise bleiben die aber meist auf Schalke oder in Gelsenkirchen auf dem Friedhof liegen. Also allein dieses Lied bei Beerdigungen zu singen, finde ich wunderbar. Das würde ich auch singen lassen, wenn ich da eine Beerdigung machen müsste, in Gelsenkirchen. Da hat man so viel Freude bei diesem Lied, mit Tränen in den Augen würde ich es toll finden.

OM: Wo hört für Sie denn Religion auf und wo fängt es an für Sie bizarr zu werden?

Jürgen Fliege: Wenn Menschen wehgetan wird, also wenn Menschen zum Opfer werden. Man selber… meistens fällt das nicht auf, dass man sich selber opfert, aber wenn andere Menschen geopfert werden, dann ist für mich sozusagen das Ende der Fahnenstange erreicht. Verletzungen gehen nicht, sondern Religion ist immer der Versuch sein eigenes Leben positiv zu deuten. Und wo das auf die Knochen anderer geht, muss man sagen: Schluss! Weswegen es auch schwierig ist im Moment katholisch zu sein. Ich habe nicht gesagt unmöglich, aber schwierig, weil es offenbar systematisch auf die Knochen von Kindern geht.

OM: Zurück zur Rockmusik. Die Rockmusik hat eine lange Geschichte mit dem Teufel. Die Wurzeln liegen im Delta Blues. Der Blues-Musiker Robert Johnson soll an einer Wegkreuzung dem Teufel begegnet sein, und seine Seele gegen spielerische Fähigkeiten eingetauscht haben. Was halten Sie von solchen Legenden?

Jürgen Fliege: Das Muster dieser Legende ist uralt, und wenn Sie Ihre heilige Schrift aufblättern, da gibt es diese Hiob-Geschichte. Da gibt es genau diese Geschichte, nämlich eine Verabredung zwischen Gott und Teufel, dass sie sozusagen dem Hiob helfen. Und dann kennen Sie das bei Goethes „Faust“. Diese Geschichte, Gott und Teufel kümmern sich um eine Seele und man verwettet seine Seele oder man verkauft seine Seele, ist ein Muster in fast allen gängigen Kulturen. Wenn man das dann nun mal entkleidet, psychologisch trocken entkleidet, was steckt da eigentlich dahinter? Das man tatsächlich aus irgendeiner Angst oder Begeisterung heraus sagt: Ich möchte zu einer großen Macht gehören. Also: Ich möchte auch dienen. Das steckt in uns allen drin, bis hin zur Domina, also: Ich möchte gerne dienen, einer großen bewegenden Sache. Und dann ist mir das im Grunde genommen auch scheißegal, ob das eine scheinbar gute oder eine schlechte Sache ist. Hauptsache es ist etwas Großes, was mich Mitnehmendes. Bei Schalke 04 ist es die Westkurve oder die Südkurve oder was weiß ich, in Wacken sind es 80.000 Leute.

OM: Da haben Sie also auch schon von gehört.

Jürgen Fliege: Na klar, und das finde ich super. Wenn man dann auf einmal sieht, wie mit den scheinbaren Attributen des Teufels der Friede ausbricht, dann grinse ich, denn das ist der Columbus-Effekt: Wenn du nach Westen reist, kommst du im Osten an. Man muss aufpassen, weil Jesus hat einmal gesagt: „Der Liebe Gott lässt die Sonne aufgehen über Gutes und Böses gleichermaßen.“ Ein aufgeklärter religiöser Mensch kennt den Unterschied zwischen Gut und Böse gar nicht. Was unterscheidet die Sonne vom Regen? Was unterscheidet die Nacht vom Tag? Kann es nicht sein, dass das alles sinnvolle Energien sind, sich ergänzende Energien sind? Deswegen gehöre ich überhaupt nicht zu den Moralisten, die auch nur sagen können: Das ist Gott und das ist Teufel! Man muss sich ja nur mal angucken, wann Leute anfangen Heavy Metal oder Rockmusik zu machen. Dann ist es ja auch immer sozusagen ein Schrei nach Leben. Auch ein Schrei, dass das Leben stärker ist, für all die die ich will das das leben sie mitnimmt.

OM: Es ist an sich nichts Destruktives.

Jürgen Fliege: Nee, natürlich nicht. Ich möchte gerne, dass eine große Bewegung mich voll erfüllt. Und bitteschön Rhythmus machen, denn das hat Tucholsky schon gemacht: „Der Mensch ist ein Wesen, das Krach macht und trommelt.“

OM: Das was man aber als böse bezeichnet, ist ja im weitesten Sinn immer wieder Thema in der Rockmusik gewesen. Wenn auch ohne weiteren ideologischen Hintergrund, wurde das immer wieder aufgegriffen…

Jürgen Fliege: Das ist nur der Protest. Das ist der Aufschrei, der Protest, der Widerstand. Man sieht nicht, dass das so genannte Zerstörerische auch das Kreative ist. Wenn zwei Sterne wie in einer Supernova aufeinander knallen, ist das Kreativität, ja oder nein? Das ist Kreativität. Aufeinanderknallen ist Kreativität. Wenn man dann nur das Zerstörerische sieht, ist man blind. Du musst doch immer beides sehen. Du musst doch sehen: Das ist das Kreative, das ist das Zerstörerische und dient das Zerstörerische dem Kreativen und ist dieser Mensch, der da zerstörerisch wirkt, ist er im Grunde genommen ein Kreativer?

OM: Also ist das auch die Faszination am Spiel mit dem Bösen?

Jürgen Fliege: Ich nenne das nicht das Böse.

OM: Ja, ich habe schon verstanden.

Jürgen Fliege: Es ist dieses Spiel mit den Mächten, von denen man ganz genau weiß, die sind stärker als man selbst. Und man kommt mit ihnen nur weiter, wenn man sich ihnen anvertraut. Aber jetzt mal ein kleiner, romantischer Ausflug: Wenn Sie Sex haben oder heiraten, werden Sie auch merken, dass die Liebe stärker ist als ich. Dem kann sich keiner entziehen. Das ist eine große Sehnsucht und die drückt sich natürlich in solcher Musik aus. Und die Entdeckung, dass es das Destruktive als solches gar nicht gibt.

OM: Kann der explizite Umgang damit nicht auch Gegenteiliges bewirken, dass bewusst oder unbewusst, Feuer mit Feuer bekämpft wird?

Jürgen Fliege: Wenn Sie ein frommer Mensch sind, ein christlich-religiöser, dann kann es sein, dass Sie krank enden. Dann kann es sein, dass Sie verletzt, als Opfer, als Minusmann enden. Also wem Sie sich anvertrauen, welches Label der hat, sagt über das was Sie daraus machen überhaupt noch gar nichts. Ich muss mich einer großen Sache anvertrauen um mich weiterzuentwickeln, weil jeden Abend kurz nach 23 Uhr, geht die Controlling-Lampe aus, da muss ich mich sowieso hingeben. Also gehört Hingabe und Aufgabe von Controlling, und Wegschwimmen, in die Nacht schwimmen, in den Schlaf schwimmen, in die Träume schwimmen, zu einer ganz wichtigen Lebenserfahrung. Und das will man in der Musik immer wieder auch beschwören, und da wirst du mitgenommen. Das kann zerstörerisch sein. „I never promised you a rose garden.“

OM: Ich hatte Ihnen Links zukommen lassen. Ich weiß nicht ob Sie sich die angeschaut haben.

Jürgen Fliege: Nee, habe ich nicht.

OM: Sie haben wahrscheinlich noch nichts von Black Metal gehört?

Jürgen Fliege: Doch natürlich.

OM: Es gibt da Gruppen, die predigen Misanthropie, halten das Christentum für die Religion der Schwachen.

Jürgen Fliege: Jetzt muss man sich fragen, wo haben die da Recht? Erstens mal, kann es vielleicht sein, dass das Christentum tatsächlich einen Opferkult darstellt und das die Teilnehmer des Christentums zu großen Teilen tatsächlich zufrieden sind eine Opferhaltung im Leben einzunehmen? Da ist was Wahres dran. Ich nehme das sozusagen als einen Spiegel meiner eigenen Heimat oder meiner eigenen Religion und sage: Da sehen Leute etwas, was tatsächlich in unserer Tradition oft pervertiert worden ist. Die Leute tragen einfach das was sie tragen, anstatt sich dagegen aufzulehnen. Die fühlen sich wohl ein Opfer zu sein, statt zum Täter zu werden, und da schlagen einfach die Generationen dahinter auf den Putz und sagen: Wir nicht! Da kritisieren sie etwas richtig. Die wollen Täter werden, im Kreativen wie im Destruktiven, aber sie wollen sich nicht mehr sozusagen in eine Tradition begeben wo das Opfernde kultiviert wird. Hingabe ist etwas anderes als Opfern könnte man auch sagen. In der Liebe gibt man sich hin und erfährt, wenn man so will, eine Erfahrung jenseits der eigenen Ego-Grenze. Also in der Sexualität und in der Spiritualität. In der Musik nebenbei auch. Und das ist wichtig. Wo das sozusagen pervertiert wird und die Leute nur einfach Opfer sind: Ich bin Opfer des gelben Fiebers, keiner mag mich leiden, da ist das schlimm. Und das würde ich gerne als Kritik nehmen, wenn ich ein solches Lied höre oder einen solchen Text höre.

OM: Die Musik ist ja auch von ziemlicher Aggressivität geprägt und von Hass.

Jürgen Fliege: Aber Hass ist auch nur eine andere Form von Liebe. Was machen die Musiker, wenn sie von der Bühne gehen? Hauen die alles kaputt? Verletzt es einen Menschen? Tun sie einem das Messer zwischen die Rippen stechen oder was machen die? Oder kann es sein, dass es nur Ausdruck ist?

OM: Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen von auf der Bühne. Wie ich gelesen habe heißt ja Ihr diesjähriges Thema auf dem Wörishofener Herbst „Ehrfurcht vor dem Leben“. Und es gibt einige Gruppen die sich mit Tierblut besudeln vor dem Auftritt. Das Blut als Symbol für das Leben, um das Leben quasi zu verschwenden …

Jürgen Fliege: Ich bin vorsichtig mit solchen Symbolen. Ich bin auch vorsichtig mit den Worten und der Sprache. Ich würde die selber nicht wählen. Ich versuche aber, wenn ich das mitbekomme, zu hören: Was meint der, was will der? Für mich ist das der Beginn von Kommunikation und nicht der Beginn des Urteils. Punkt. Also heißt nicht Punkt, Ende des Interviews.

OM: Diese Musiker haben schon eine extreme Form des Okkultismus für sich gewählt.

Jürgen Fliege: Deshalb will ich nicht über sie urteilen, sondern ich sehe nur: Da gibt es einen extremen Ausdruck. Da müsste ich gucken: Ist das was Selbst zerstörerisches oder ist es im Grunde genommen was Kreatives? Menschen werden nur glücklich wenn sie kreativ sind.

OM: Von den Musikern selbst wird das als sich in eine innere Leere begebend bezeichnet und höhere Mächte durch sich wirken lassen.

Jürgen Fliege: Ja, aber wenn sie die Religionen dieser Welt angucken, dann sehen sie auf einmal, dass das Blut eine wichtige Rolle gespielt hat. Ob Sie zu indianischen Traditionen gehen oder ob Sie zur christlich-jüdischen Tradition gehen, ob Sie ein einziges Mal dabei gewesen sind wenn ein Tier geschächtet wird, da fließt das Blut. Und da muss ich sagen, wenn das Künstler machen, dann guck ich mich gleich um wo das bei mir genauso der Fall ist. Damit ich nicht ins Urteilen komme, sondern ins Nachdenken. Ich kann nicht hingehen und sagen: Da haben wir nichts mit zu tun. Doch, da habt ihr eine Menge mit zu tun. Ich selber finde das nicht richtig, also für mich nicht richtig. Mein erster Impuls ist ja: Kann ich verstehen. Das machen die aus einer tiefen, inneren, richtigen Haltung heraus. Das machen diese Hochreligionen genauso wie die indianische Tradition, genauso die afrikanische Tradition. Die arbeiten alle mit Blut.

OM: Diese Musiker, ich sag‘ mal, beschwören das Chaos.

Jürgen Fliege: Ja, Chaos, das habe ich vorhin mal die Supernova genannt. Natürlich, ich kann nicht hingehen und mit meinem spießigen Lebensmodell südlich von Wuppertal aus dem bergischen Land versuchen die ganze Welt zu beschreiben. Wenn ich sehe das die Dinge aufeinander knallen, um wieder neu geboren zu werden, dann ist das für mich nicht so wahnsinnig schlimm.

OM: Das ist ja das Ding, dass aus dem Chaos dann wieder Neues entsteht.

Jürgen Fliege: Ja, so ist es. Wenn das gesehen wird, ist das doch in Ordnung.

OM: Aber es ist schon eine extreme Verurteilung dessen was im Moment besteht.

Jürgen Fliege: Schießen sie oder schießen sie nicht? Stechen sie oder stechen sie nicht?

OM: Es gab in der Vergangenheit, Anfang der Neunziger, tatsächlich, wenn auch jetzt nicht unbedingt ideologisch bewegt, Morde und Kirchenbrände.

Jürgen Fliege: Da wäre dann Schluss mit lustig bei mir. Du kannst es machen um dein Leben zu begreifen, aber es darf nicht auf die Knochen der anderen gehen. Du hast kein Recht mit deiner Ideologie, die mag noch so toll sein, noch so richtig sein, einen anderen Menschen zu verletzen. Damit wirst du nicht zum Sohn Gottes, ich übertreibe jetzt mal ein bisschen.

OM: Es war wohl die bisher extremste Form von jugendlichem Aufbegehren. Eine Vielzahl der Musiker bereuen auch heute ihre Taten…

Jürgen Fliege: Aber auch da würde ich sagen: Pass mal auf, bevor wir ins Urteilen gehen, stoßen wir darauf, dass in unserer Religion als Grundlage ein Mensch geopfert wird. Dieses Opfern und dieses Töten…

OM: Es hatte in diesem Fall jetzt nichts mit Opferung zu tun…

Jürgen Fliege: Es hat in diesem Fall etwas mit einem Gewaltexzess zu tun.

OM: Ja, wahrscheinlich.

Jürgen Fliege: Also so: Pass mal auf, heute ist Schluss mit lustig, geh nach Hause. Oder was immer man machen muss um dem ein Ende zu bereiten. Also für mich sind es auch immer, das habe ich ja auch vorhin schon ein paar Mal betont, auch Versuche, aus einer erstickenden und erstickten Religiosität erneut wie ein Vulkan nach oben zu blubbern, ein Geysir zu sein und zu sagen: Es muss was Neues kommen.

OM: Diese Musikrichtung ist auch von Misanthropie geprägt. Ist Menschenhass überhaupt etwas womit man Leben kann?

Jürgen Fliege: Also ich würde das nicht zu meiner Ideologie machen.

OM: Das hieße ja auch, dass man sich selbst mit verurteilt.

Jürgen Fliege: Dann heißt es ja, dass ich mich selber hasse und damit kann man glaube ich nicht glücklich werden und damit hat man auch kein Konzept für die Zukunft.

OM: Bei einigen geht es ja auch darum sich selbst über andere zu stellen oder selbst zum, ja, Gott zu werden.

Jürgen Fliege: Das ist eine Geschichte, da würde ich auch vorsichtig sein. Was passiert um 23 Uhr nachts, kannst du durchhalten im Controlling oder musst du aufgeben? Also ich würde da gerne biographischer oder lebensgeschichtlicher vorgehen und sage: Schau doch mal, du machst diese Erfahrung jeden Abend, und du machst sie wahrscheinlich in der Sexualität auch und sonst wo. Überall ist das Modell: Du musst aufgeben, du musst die weiße Fahne hissen, und das ist das Modell des Lebens.

OM: Ich frage mich auch inwieweit diese Leute das in ihrem Alltag konstant durchhalten können.

Jürgen Fliege: Da ist doch was ausgebildet. Wenn ich hingehe in solch ein Gespräch, wenn's überhaupt zu Stande kommt, dann sage ich: Schau doch mal, du lügst dir selber einen in die Tasche. Ich könnte über dich ein Video machen wie du nachts schläfst. Was hältst du eigentlich davon, du Gott? Du gibst an wie Nachbars Lumpi. Aber das würde ich versuchen sehr liebevoll zu sehen, weil: Warum macht der das? Jeder religiöse Mensch ist aus irgendwelchen Defiziten oder Positivem zu so einer Religion gekommen, auch der Musiker. Ich würde mir gerne angucken, welche Organe vorher nicht funktioniert haben.

OM: Es ist ja erst in den letzten Jahren zu solch einer verbreiteten Ernsthaftigkeit in dem Bereich gekommen. Es ist ja auch in anderen esoterischen Bereichen so, dass es da mittlerweile eine enorme Nachfrage gibt.

Jürgen Fliege: Der Bundespräsident Johannes Rau, der hat mal gesagt: „Die Sekten sind die Sünden der Kirche.“ Also wenn man so will die Esoteriker, die neue Versuche machen, die Beschwörer, die Spiritisten. Die füllen doch nur ein Defizit aus, was sozusagen die Kirche mit ihrem merkwürdigen Anspruch von Gewerkschaft für die ganze Welt nicht erfüllen kann. Die Spiritisten gehen in die Geschichte Tod und Leben, die Kirchen gehen nur in den Verteilungskampf. Verstehen Sie was ich meine? Und das Bedürfnis der Musiker ist immer Tod und Leben und weniger Verteilungskampf..

OM: Wie erklären sie sich das, dass diese Nachfrage nach Spirituellem so gewachsen ist…

Jürgen Fliege: Weil sie kultisch nicht mehr bearbeitet wird. Die toten Vater und Mutter, der Friedhof etc., die Großeltern. Da meinen die Leute die spielten alle keine Rolle, die hätten alle keine Wirkung mehr auf uns Lebende. Haben sie aber. Und dann geht die junge Generation hin, so nenne ich das jetzt einfach mal, als 64 Jahre alter Mann, und sagt: Ich pfeif euch was, ich beschwöre die jetzt. Aber auch Jesus selber sagt: „Drei Generationen wirken immer.“ Dann bastelt man sich seine eigene Religion, weil in der großen das Element nicht mehr drin ist von Tod und Auferstehung. sondern nur noch als beschworener Satz, aber nicht mehr als erfahrbare, spürbare, gruselige Wirkung.

OM: Ist das auch eine Suche nach Erklärungen oder einfach nur nach Halt?

Jürgen Fliege: Es ist eine Suche nach Zugehörigkeit und Halt, die über den eigenen Tod hinausgeht. Ich will nicht in diesem Leben gehalten werden, sondern in jedem Leben gehalten werden, und das können nur die Toten. Die Lebenden können mich nicht halten. Kaum das der Herzinfarkt da ist, gehöre ich zu anderen. Und deswegen suche ich mir in diesem Leben schon, wer mich im anderen Leben hält.

OM: Ist für Sie ein Leben ohne Spiritualität eigentlich möglich?

Jürgen Fliege: Nein, ist es nicht. Für mich sowieso nicht, aber da bin ich ja sozusagen ein Lohnprediger. Stimmt zwar nicht, weil ich ja keinen Lohn mehr bekomme, aber ist egal. Nein, aber Sie machen es von der Musik her klar und ich mache es beispielsweise von einer Krankheit des Menschen her klar. Jede Krankheit ist ein Weg in die Stille. Das Suchen in der Stille, das Lauschen in der Stille, das Lauschen nach dem Jenseits des Todes ist uns Menschen immanent. Also ist Spiritualität ein wesentliches Gewürz des Lebens.

OM: Also ist jeder Mensch auch ein spiritueller Mensch, ob er will oder nicht.

Jürgen Fliege: Na klar, aber ich muss ihn nicht in mein christliches, dummes Schema pressen. Nicht dummes, sondern beschränktes.

OM: Okay. Durch die Informationsflut des World Wide Web sickerte eine an Sie gerichtete Botschaft zu mir durch. Es handelt sich dabei um eine Botschaft eines Musikers namens Chryst, Chryst in diesem Fall mit Ypsilon. Chrysts Anliegen ist die Dekonstruktion des Abendlandes durch eine Revolution im Unterbewussten. Ich soll Ihnen Folgendes Mitteilen: „Mein Sohn, ich danke Dir für deinen unermüdlichen Einsatz, gebenedeit sei deine Internet-Kirche, welche Licht ins Dunkel der Bytes und Pixel bringt. Verbreite die Kunde von Chryst im ganzen Abendlande.“ Möchten Sie dem noch etwas entgegnen?

Jürgen Fliege: Entgegnen sowieso nicht. Die Kunst des Lebens heißt zuzustimmen. Ich finde es in Ordnung, ich stimme zu.

OM: Dann bedanke ich mich recht herzlich für dieses Gespräch.

Jürgen Fliege: Es war viel besser als ich dachte.

OM: Tatsächlich? Was hätten Sie denn erwartet?

Jürgen Fliege: Ich hatte irgend so einen Verrückten erwartet, der fast schon Rap-mässig mich fragt. Ich stoße auf einen Menschen der mit tiefen Gedanken durch sein bisheriges Leben wandert und das gefällt mir gut.

OM: Vielen Dank! Ja, mit Hip Hop haben wir nicht so viel am Hut.

Jürgen Fliege: Ja okay, hehe. Bis Bald.

OM: Bis Bald. Tschüß!

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Datum: 12.10.2011
Autor: Ernesto

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